Auszug aus dem Buch:

"Hallo Mr. Gott, hier spricht Anna"

 

 

In einer Nebelnacht begann mein Leben mit Anna. Ich schlenderte die Straße entlang. Es war ziemlich dunkel, die Häuser warfen nebelverbogene Schatten. Die Bäckerei war noch erleuchtet, obwohl längst geschlossen war. Das Schaufenster zeigte ein helles Viereck in einem widerwärtig feuchten Wetter.

Unter dem Fenster saß ein kleines Mädchen auf einem Eisengitter. In dieser Gegend laufen häufig Kinder spät nachts noch auf der Straße herum. Aber bei diesem Kind war das anders. Warum es anders war,  habe ich vergessen.

Ich setzte mich neben die Kleine. Wir saßen da drei Stunden lang. Und ich bin heute noch überzeugt - sie hat mich verhext. Irgend so etwas muss es gewesen sein. "Rutsch mal ein bisschen," sagte ich. Sie rückte zur Seite und sagte nichts. "Nimm dir eine Zervelatwurst." Sie schüttelte den Kopf. "Gehört dir." "Ich hab einen ganzen Haufen Würstchen. Außerdem bin ich völlig satt," sagte ich. Sie antwortete nicht. So legte ich die Tüte mit den Würstchen zwischen uns.

Das Schaufensterlicht war nicht besonders hell. Die Kleine saß im Schatten. So sah ich nur, dass sie abenteuerlich dreckig war. Sie hatte eine zerfetzte, zerlumpte Puppe unter den Arm geklemmt; auf ihrem Schoß lag eine verbeulte Schachtel mit Buntstiften.

 

 

Wir schwiegen eine halbe Stunde lang. Ich sah, wie ihre Hand langsam in das Würstchenpaket schlich und empfand tiefe Freude, da wenig später das Geräusch der zwischen ihren Zähnen zerplatzenden Wurstpelle zu hören war.

Ein oder zwei Minuten später stibitzte die Hand ein weiteres Würstchen, dann das dritte. Ich zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. "Kann ich rauchen, während du isst?" fragte ich.

"Was?" Ihre Stimme klang alarmiert. "Kann ich mir eine ins Gesicht stecken, während du isst?" Sie rutschte herum, kniete sich auf das Pflaster und sah mir ins Gesicht. "Warum?" fragte sie.

"Meine Mutter besteht auf einer feinen Erziehung", sagte ich, "man pustet einer Dame keinen Rauch ins Gesicht, während sie Zervelatwürstchen isst."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Kleine starrte einen Moment lang das halbe Würstchen in ihrer Hand an, dann fragte sie: "Warum - hast du mich gern?" Ich nickte. "Dann steck dir eine ins Gesicht." Sie lächelte und stopfte den Rest des Würstchens in den Mund.

Ich hielt ihr das brennende Streichholz hin. Sie pustete und übersprühte mich dabei mit einem Regen kleiner Wurststückchen. Plötzlich schrak sie zusammen. Ihren Blick werde ich nie vergessen. Sie biss die Zähne zusammen. Ihr Gesicht verzerrte sich in Erwartung einer Ohrfeige.

Was mein Gesicht ausdrückte. weiß ich nicht. Jedenfalls gab sie einen so kläglichen, traurigtrockenen Schluchzer von sich, wie ich ihn noch nie gehört hatte und wie ich ihn auch nie wieder hören will. Der Ton schnürte mir die Kehle zu und ich begann zu lachen. Was konnte man auch anderes tun, bei so viel Angst und Kindertrauer. Ich lachte und lachte und konnte nicht aufhören.

Dann sah ich, dass auch sie begonnen hatte zu lachen. Da kniete kein erbärmliches Bündelchen Angst mehr vor mir. Sie lachte, sie kniete auf dem Straßenpflaster, reckte mir ihr Gesicht entgegen und schüttelte sich vor Lachen. Wie viele Male in den folgenden drei Jahren, habe ich dieses Lachen gehört.

 

 

Ich packte sie bei den Schultern und stellte sie auf Armeslänge auf die Beine. Dann kam der Blick, der nur Anna gehörte. Sie sah mich an, Mund weit offen, Augen noch weiter offen. Ihr ganzer Körper vibrierte. Beine Arme Finger Zehen, alles zitterte. Ein kleiner Vulkan stand vor mir. Sie lachte und konnte nicht aufhören.

Sie versuchte etwas zu sagen aber es kam nichts rechtes zustande. "Du ... du ... du," lachte sie. Dann rang sie sich bei  all dem Gelächter einen Satz ab: "Du magst mich"?

Was für eine Antwort gab es darauf? Es gab nur eine. Ich sagte: "Ja." Sie kicherte, tippte mich mit dem Zeigefinger an. "Du hast mich lieb" und trudelte um die Straßenlaterne. "Du hast mich lieb, du hast mich lieb."

 

 

 

Einen Augenblick später sagte sie: "Ich bin überhaupt kein bisschen durstig." Wir gingen wir in die nächste Wirtschaft und kauften eine Flasche Bier. Sie wollte die 'braune Flasche mit so einem komischen weißen Knopf drin.' "Geh'n wir zurück zu dieser Backbäckerei," grinste sie.

Da saßen wir also wieder - der Große und die Kleine. Ich glaube nicht, dass wir mehr als eine halbe Flaschenflasche tranken. Denn es stellte sich heraus, dass es viel schöner war, so ein Brausegetränk kräftig zu schütteln und dann. pscht, schoss eine Spritzfontäne über die Straße. "Jetzt du," sagte sie. Es war kein Bitte, das War ein Befehl.

Ich schüttelte kräftig und der Stöpsel flog heraus. Ein Schwall von Bierschaum regnete auf uns hernieder. Während der nächsten Stunde gab es Gekicher, weitere Würstchen, mehr Bier mit noch mehr Schokoladenrosinen.

 

 

Den Vorübergehenden schrie sie hinterher: "He, Sie da, er mag mich, er mag mich." Hinauf die Treppe am Haus gegenüber. Sie rief mir zu: "Ätsch, ich bin größer als du." Gegen hab elf, saß sie zwischen meinen Knien und begann eine ernste Unterhaltung mit Maggie, der Lumpenpuppe.

Ich sagte: "Du gehörst jetzt ins Bett. Los. Wo wohnst du?" Mit langsamer Stimme erwiderte sie: "Nirgends. Ich bin weggelaufen." "Und deine Mammi und dein Pappi, wo wohnen die?" fragte ich. Sie hätte ebenso gut antworten können, das Gras ist grün, der Himmel ist blau.

Sie sagte nur: "Sie ist eine Kuh und er ist ein Säufer. In das Scheißhaus geh ich nie mehr. Ich wohn bei dir." Ein etwas ungewöhnlicher Befehl, in einer etwas ungewöhnlichen Sprache. Aber man konnte nichts dagegen machen. Ich sage: "Na schön, du kannst mitkommen; morgen sehen wir weiter."

 

 

 

Copyright 10/2001 

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Bilder und Texte und Webdesign:  Hans Peter Schneider

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